MacMacken fragt in einem Kommentar auf Christophs Blog:

Gab es in den letzten Jahren wesentliche IT-Entwicklungen als freie Open Source?

Das ist ein guter Punkt. Es gab in der letzten Zeit durchaus einige interessante freie Entwicklungen, die an Relevanz gewonnen haben, z.B. LLVM, WebKit und Android. Diese wurden aber fast immer von Firmen vorangetrieben (in den genannten Fällen interessanterweise gerade Apple und Google, die mittlerweile bisweilen als die „neuen Microsofts“ gesehen werden).

Wirklich offene, Community-getriebene Entwicklungen, die innovativ sind, sind hingegen in der Tat selten; andererseits war das früher meinem Eindruck nach auch nicht anders. Der Unterschied zu früher ist, daß die kommerzielle Konkurrenz bezüglich technischer Qualität wesentlich stärker zugelegt hat als die freie Softwarewelt. Vor nicht allzu langer Zeit blieb einem nichts als GNU/Linux (und andere freie unixoide Systeme), wenn man ein robustes PC-Betriebssystem mit brauchbarer Benutzeroberfläche verwenden wollte. Mac OS X und Windows XP haben das geändert. Es blieb einem nichts als Firefox, wenn man einen benutzerfreundlichen Browser mit Tabs verwenden wollte (nun, und Opera, welches aber andere Probleme hatte). Safari und Internet Explorer 7 haben das geändert.

War an GNU/Linux an sich viel innovativ? An Firefox? An Apache? Mein Eindruck ist: nein. Diese Software war technisch gut umgesetzt, und auf diese technische Überlegenheit hat man vertraut. Firefox war der bessere Internet Explorer. Linux war das bessere Windows. Heutzutage heißt es, Mac OS X sei das bessere Linux. Damit hat Linux das eine Herausstellungsmerkmal verloren, das für den gemeinen Anwender die Attraktivität des Systems ausmachte.

Nicht, daß es nicht Versuche gegeben hätte, Akzente zu setzen. Leider nur sind alle Projekte, die sich trauten, neue Wege zu gehen, reihenweise grandios gescheitert. Man denke an Berlin/Fresco. Man denke an GNOME.

GNOME? Genau dieses. Erinnert sich noch jemand daran, wofür die Abkürzung eigentlich steht? GNOME — das GNU Network Object Model Environment. Der Name kündet von einer sagenhaften Welt, in der Dateien und Anwendungen keine Rolle mehr spielen, in der es nur Objekte gibt, in der die Smalltalk-Sicht der Dinge regiert — und das auch noch netztransparent. Viel ist von dieser großen Vision nicht übriggeblieben, und heute wird jede versuchte radikale Paradigmenwende von der endlosen Angstschürerei der Pragmatiker zutodediskutiert. „Wenn wir uns dermaßen anders verhalten als Windows, dann werden wir viele Anwender verlieren!“ Nein, schrecklich! Wir werden Anwender verlieren! Aber werden wir dafür nicht etwas gewinnen, das langfristig viel wertvoller ist — nämlich ein Profil? Etwas, das uns auszeichnet? Etwas, das diejenigen Anwender möglicherweise in Zukunft in Scharen zu uns treiben könnte, die mit dem ancien regime doch nicht so zufrieden sind, wie sie vielleicht jetzt glauben? Ist es wirklich so klug, sich gerade an den Menschen zu orientieren, die von unserer Philosophie eigentlich gar nichts wissen wollen und sich nur ein besseres Windows wünschen?

Apple hat für dieses Dilemma eine einfache und effektive Lösung: Sie ziehen ihre Vision stückchenweise durch — gut verdaulich, aber doch konsequent, und nicht in ganz so kleinen Häppchen, daß vom Wandel nichts mehr zu erkennen wäre. Die etablierten freie Systeme aber bekommen das nicht hin, weil sie sich nicht einmal auf irgendeine Vision einigen geschweige denn so effektiv ihre Kräfte bündeln können, wie eine diktatorisch organisierte Firma das kann. Der einzige Ausweg aus dem Teufelskreis des krankhaft status-quo-orientierten Microsoft- und Apple-Kopierens wäre, denjenigen Anwendern, die sich von Windows nicht weggewöhnen wollen, ihr geliebtes Windows eben zu gönnen.

Das wäre doch a priori eigentlich der große Vorteil von freien Projekten: Ihr Erfolg hängt gar nicht im selben Maße von der Zahl der Anwender ab wie das eines kommerziell betriebenen Projekts. Sie können rein ergebnis- statt kundenorientiert arbeiten, ohne großen Schaden dabei zu nehmen. Anstatt aber eine Revolution einzuleiten, beugen sie sich dem Establishment und den von ihm geschriebenen Gesetzen, indem sie in das Geschrei nach „Marktanteilen“ einstimmen — ein Spiel, das sie angesichts der anarchischen Struktur der Community nicht gewinnen können. Man riskiert mit diesem Handeln im besten Fall ohne Grund die völlige Irrelevanz freier Software und ihrer Philosophie außerhalb einer eingeschworenen Community. Im schlimmsten Fall läßt man sowohl die Community selbst als auch ihre Produkte sich so weit von ihren ursprünglichen Idealen entfernen, daß ihre Mitglieder keinen Sinn mehr in ihr sehen und sie sich selbst auflöst.

Wer weiß: Mit etwas Glück entwickelt die Community bald ein Bewußtsein für ihre eigene Rolle auf der Suche nach Unabhängigkeit und Freiheit. Möglicherweise hat ein Schwinden der Windows-Flüchtlinge durch die (gerüchteweise) hohe technische Qualität von Windows 7 sogar eine heilende Wirkung auf sie. Falls nicht — falls man sich vom Buhlen nach „Switchern“ trotz allem nicht befreien kann — wird Desktop-Linux die kommende Dekade vielleicht nicht überleben.