Als ich gestern Kapitel 40 von Horst Stowassers Freiheit pur: die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft (frei erhältlich als PDF sowie in einer neuen Druckauflage unter dem Namen Anarchie! und auf jeden Fall empfehlenswert) überflog, fielen mir einige Abschnitte auf, die ich früher schon einmal gelesen hatte und einfach nicht besser wiedergeben kann als durch ein langes Zitat:

... Auch in der Anarchoszene gibt es ein ritualisiertes* »das tut man nicht« -- nur wird es anders ausgedrückt ...

Dahinter steckt eine merkwürdige und sehr hartnäckige Gleichsetzung von Form und Inhalt. In den meisten Fällen fügt dabei der übersteigerte Formalismus dem inhaltlichen Anliegen schweren Schaden zu.

Nichts hat wohl dem Anliegen der Arbeiterbewegung jemals mehr geschadet, als der idiotische »Proletkult«, mit dem die kommunistische Ideologie der Welt beweisen wollte, daß der arbeitende Mensch der bessere Mensch sei. Arbeiterbewußtsein, Arbeitersprache, Arbeiterlieder, Arbeiterkultur, Arbeiterwitze und Arbeiterkitsch wurden als Errettung aus bürgerlicher Dekadenz hoch in den blauen Himmel der diversen Arbeiterparadiese gejubelt. Alles war per Definition gut und edel, sofern es nur vom Proleten kam. Selbst als dieser Mythos im Ostblock längst eingeschlafen war, feierte er in der »Neuen Linken« als Szene-Mode fröhliche Auferstehung. Nun waren es westdeutsche Studenten, die dem Kult der »werktätigen Massen« fröhnten, und in deren Kampfblättern man lesen konnte, daß »über zweitausend Menschen und Werktätige« an einer Demonstration teilgenommen hatten.

Heute wird hingegen zwischen Menschen und Frauen unterschieden. Mit der gleichen Akribie wie seinerzeit der »Klassenstandpunkt«, wird derzeit der »Frauenstandpunkt« durchgesetzt. Damals war die »Frauenfrage« ein »Nebenwiderspruch des Klassenkampfes«, heute ist jedes Problem ein Ergebnis des »Geschlechterkrieges«. In den einschlägigen InsiderInnenblättern erfährt die erstaunte LeserInnenschaft etwa, daß die Beteiligung der AntifaschistInnen aus dem Spektrum der HausbesetzerInnen bei den Aktionen der betroffenen Leute aus den autonomen Frauen- und Lesben-Männer/Schwulen-Zusammenhängen zu inhaltlicher Kritik am sexistischen Sprachverhalten einiger Typen geführt hat, die die Forderung nach einer getrennten Frauen/Lesben-Küche lächerlichgemacht haben, weil man/frau die Vermittlung eines spezifisch femistischen Standpunkts in dieser Frage vernachlässigt hat, da niemensch mit solchem Chauviverhalten rechnen konnte.

JedeR, der/die sowas liest und nicht zur entsprechenden Szene gehört, wird sich angesichts solch Orwell'schem Neusprech* die Frage stellen: »Haben die sonst keine Sorgen?« Vorausgesetzt, der Inhalt dieses Satzes wurde überhaupt verstanden.

Das fragen sich auch jene selbstbewußten und durchaus emanzipierten Frauen, die eine solche sprachliche Liturgie* ablehnen und sich dagegen verwahren, daß das Anliegen der Frauen auf diese Weise von einer skurrilen Szene zum formalen Modethema verwurstet wird. Es handelt sich ja nicht, wie gern behauptet, um eine Reinigung der Sprache von männerbestimmter Ideologie, sondern um eine Befrachtung der Sprache mit einem permanenten Bewußtseinsbekenntnis. Sie wird dadurch nicht nur auf schauderhafte Weise un-sprechbar, un-lesbar und un-verständlich, sondern wirkt auf neunundneunzig Prozent aller Menschen so grotesk wie alle Ideologie-Jargons. Die politischen Folgen sind verheerend. So wie ein frommer Katholik nicht »Maria« sagen kann, ohne »die Du bist gebenedeit unter den Weibern« anzuhängen, damit sprachlich dokumentiert bleibt, daß ihm die besondere Rolle der Heiligen Jungfrau stets und ständig bewußt ist, so dokumentiert auch der trendbewußte Linksmensch in jedem Satz seine tiefe Betroffenheit: Er weiß, daß es eine Unterdrückung der Frau und ein Patriarchat gibt und er zeigt, daß er dieses Problem allzeit ernst nimmt und nie vergißt. Der gläubige Mohammedaner muß in seinen Nebensätzen ständig betonen, daß Allah der Einzige und Erhabene Gott ist und Mohammed Sein Prophet. Der gläubige Marxist flicht mit seinen proletarischen Sprachschlenkern in jeden Satz das Bekenntnis zum »Klassenstandpunkt« ein. Dem »Frauenstandpunkt« widerfährt leider kein besseres Schicksal.

Es handelt sich mithin um ein semantisches* Glaubensbekenntnis, das gleichzeitig als szene-typisches Identifizierungssignal funktioniert. Dieser Jargon wird in zwanzig Jahren auf diejenigen, die ihn heute anwenden, nicht weniger peinlich wirken als heutigentags die Proletkult-überfrachtete Agitationssprache des SDS auf die alten Achtundsechziger. Die Auswirkungen solcher Sprachghettos auf das eigentliche Thema sind immer negativ -- gleichgültig, wie gut, berechtigt und wichtig das Anliegen auch sein mag. Je intensiver sprachliche Überzeugungs- und Unterwerfungsrituale gepflegt werden, desto weniger werden sie geglaubt. Der formalistische Neofeminismus als derzeitiges Modethema einiger linker »Scenes« wird dem Anliegen der Frauen einen hohen Preis abverlangen.

Dabei steht er hier nur als ein Beispiel für viele linke Zeitgeisterscheinungen, bei deren kultischer Erhöhung stets Form und Inhalt verwechselt werden. Erinnern wir uns, wer in letzter Zeit neben Proletariern und Frauen nicht schon alles als Hoffnungsträger und Übermensch gehandelt wurde: der Vietkong, der Tatmensch Ché Guevara oder der Guerillero an und für sich ... Buddhistische Mönche, Gurus, Visionäre, Menschen mit dem Dritten Auge und esoterisch Erleuchtete aller Schattierungen bis hin zu Ätherleibern und außerirdischen Heerscharen, die mit ihren UFOs zur Rettung der Erde angetreten sind. In größerer Heimatnähe dann noch den allseitig betroffenen Öko- und Friedensaktivisten, den sanften Naturmenschen, den Bewußtseinskünder. Nicht zu vergessen die sagenhaften Rückzugsgefilde des kleinen Hobbit.

Hinter diesen Dingen stecken meist legitime, zumindest interessante Bereiche. Indem ein jedes dieser Themen aber zu dem Thema schlechthin gemacht wird, verwandelt sich der Inhalt eines Anliegens in starre, äußerliche Form. In der Regel werden alle Heilserwartungen auf den neuen, perfekten Menschen projiziert, der dort angeblich schlummere und nun entdeckt worden sei. Diesem Hoffnungsträger wird mit den neu entstandenen Formalien gehuldigt. Solche Formalien tendieren zu Isolation und stoßen auf Unverständnis. Die ultrasofte Müsliszene wirkt mit ihren Ritualen auf Außenstehende natürlich genauso grotesk wie die knallharten Autonomen oder die antisexistisch festgebissenen »Frauen/Lesben-Zusammenhänge«.

Auf die gleiche Weise entstand aus dem Rebellenfreak Jesus eine katholische Kirche, aus dem Kampf der unterdrückten Arbeiter ein Proletkult, aus dem Kampf der unterdrückten Frauen ein neuer Frauenkult. Dem Menschen weiblichen Geschlechts werden heute sämtliche ersehnten Tugenden aufgebuckelt. Aber auch die heftigsten Rituale werden all die Nicht-Gläubigen beiderlei Geschlechts kaum von der Überzeugung abbringen können, daß eine Frau auch bloß ein Mensch ist.

(aus: Horst Stowasser, Freiheit Pur, im oben genannten PDF auf S. 376ff.)